corona & klassismus

+++ Update im März 2022: Diese Seite wird bald aktualisiert – besuche uns bald mal wieder für überarbeitete Texte, neue Inhalte und weitere interessante Links zu Initiativen, Infos usw. Vorab weisen wir auf diesen Fragenkatalog hin, den das Polit- und Bildungskollektiv kikk entworfen hat. Die Fragen können dich mit dir, deinen Freund*innen oder deiner Polit-Gruppe ins Gespräch zu Klasse, Klassenunterschiede und Klassismus bringen. +++

 

Klassismus bezeichnet die Benachteiligung oder Diskriminierung von Personen oder Personengruppen aufgrund ihrer sozialen Herkunft oder Position. Klassismus richtet sich z.B, gegen von Armut Betroffene aber auch gegen studierende Arbeiter*innenkinder. Unsere soziale Herkunft und Position entscheidet nach wie vor über Zugänge zu unter anderem Bildung, Kultur und gesellschaftlicher Teilhabe. Nur wer Zugang zu dem hat, was in unserer Gesellschaft als wertvoll gilt, hat die Chance auf einen angesehenen Job und muss sich weniger Sorgen um Geld, Wohnung und Gesundheit machen. Wer all das nicht hat, wird in der Öffentlichkeit und Politik nicht Ernst genommen, sondern wird verachtet. Diese Verachtung drückt sich durch Vorurteile aber auch durch Gewalt aus.

Klassismus ist wie andere Diskriminierungsformen, zum Beispiel Rassismus und Sexismus, allgegenwärtig – auch in der Corona-Krise, die soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit sichtbarer macht und verstärkt. Auf dieser Seite findest du einige Beispiele für Klassismus und Erklärungen, wie er sich auf unser Leben in den Bereichen Ansehen, Geld, Wohnen, Arbeit und Bildung auswirkt. Unter was ist klassismus? findest du eine ausführlichere Definition von Klassismus.

corona & klassismus: hartz IV

„Und, was machst du so?“ „Ich beziehe Sozialhilfe, also Hartz IV.Ah, also du machst nichts oder wie?
Der Wert an einer Person bemisst sich in unserer Gesellschaft daran, was sie auf dem Arbeitsmarkt leistet. 
Menschen, die Hartz IV beziehen, wird ein gesellschaftlicher Wert abgesprochen. Ein häufiger, diskriminierender Satz ist z.B. „Wer Hartz IV bezieht liegt auf der Tasche der Steuerzahlenden und ist faul!“ In den Köpfen vieler Menschen herrscht seit der Einführung von Hartz IV 2006 unter Gerhard Schröder das Bild der sozialen Hängematte vor.
Dabei wird nicht die Frage gestellt, wie ein Mensch in die Lage gekommen ist, Hartz IV zu beziehen, und wie schwierig es sein kann, auf dem Arbeitsmarkt einen guten Arbeitsplatz zu bekommen. Im Gegenteil: Die Verantwortung liege ganz allein bei dem Menschen, der selbstverschuldet vom Staat abhängig sei. Sozialhilfeempfänger*innen sind sehr viel Kontrolle durch den Staat ausgesetzt, der empfindlich in die Privatsphäre eingreift. Hartz IV zu bekommen macht keinen Spaß!
 

Der Hartz IV-Regelsatz beträgt aktuell 446 Euro für eine alleinstehende Person. Das sind am Tag knappe 15 Euro – für alles! (ohne Wohnungsmiete) 
15 Euro für Lebensmittel, Bekleidung, Haushalt, Gesundheit, Bildung, Freizeit, Verkehr und so weiter. 
15 Euro reichen nicht, um am gesellschaftlichen Leben teil zu haben. 15 Euro reichen nicht für ein Leben in Würde!

corona & klassismus: obdach- und wohnungslosigkeit

“Social distancing”, also von Menschen Abstand halten, ist im Corona-Alltag in aller Munde, um Ansteckungen mit dem Virus gering zu halten. Vielen Menschen fällt es schwer, Familie und Freund*innen nicht mehr zu treffen und zu umarmen oder den Nachbar*innen die Hand zu geben. Außerdem machen Menschen auf dem Gehweg Bögen umeinander und an der Supermarktkasse wird der Ton schon einmal rauer, wenn keine 1,5 Meter Abstand gehalten werden – auch das fühlt sich komisch an. Dabei geben wir vielen Menschen, die auf der Straße leben, auch ohne Corona-Krise tagtäglich dieses Gefühl. Stell’ dir vor, du hörst in der S-Bahn-Musik. Eine Person, schick gekleidet im Anzug, kommt auf dich zu und deutet an, dich etwas fragen zu wollen. Wie reagierst du? Nun stell’ dir vor, eine Person, die du als obdachlos liest, kommt 5 Minuten später auf dich zu. Reagierst du genauso? Von Armut betroffene Menschen werden in unserem öffentlichen Leben oft ignoriert, nicht angehört, nicht ernst genommen. Im Gegenteil: oft werden sie beleidigt oder körperlich angegriffen. Das ist Klassismus!

Die Aufforderung, zuhause zu bleiben, ist leicht gesagt – aber für viele Menschen nicht leicht getan. Wohnungslose Menschen haben keinen Rückzugsort. Die Notunterkünfte machen zu, Beamte verjagen Menschen von öffentlichen Plätzen und Parks. 
 
Leerstand öffnen oder #besetzen, leere Hotels öffnen, Wohnungslosigkeit abschaffen!
 
corona & klassismus: miete
 
Corona zeigt, dass Immobilienbesitz krisensicher ist. Während Hauseigentümer*innen und Hausverwaltungen also wie gewohnt Mieteinnahmen erzielen und die Wirtschaft gerettet wird, zeigt sich, wer leer ausgeht und unter der Krise leidet. Menschen, die ihre Miete jetzt nicht zahlen können, sollen das 2 Jahre nachholen dürfen – und weitere 2 Jahre finanziell unter der Krise leiden?
 
Mietstreik jetzt! Auch wenn du deine Miete zahlen kannst, zeige dich solidarisch, rede mit deinen Nachbar*innen und streike mit! Unterstütze die Petition von SuspendTheRent!
 
Warum und wie einen Mietstreik organisieren wird hier auf Englisch erklärt.
 
corona & klassismus: arbeit
 
Krankenhäuser arbeiten seit 20 Jahren profitorientiert. Seitdem steht nicht mehr das Wohl der Menschen an erster Stelle, sondern die Schaffung von Gewinnen. Zu den ohnehin schon schlechten Arbeitsbedingungen gesellte sich ein enormer Kostendruck. Zu Schichtarbeit, geringer Bezahlung und psychischer Belastung kam der Druck, dass immer mehr Patient*innen in immer kürzerer Zeit mit weniger Personal versorgt werden müssen. Nur so können Gewinne erzielt werden. In der aktuellen Corona-Krise sind die Einsparungen an Personal besonders spürbar. Die breite Öffentlichkeit erkennt erst jetzt, dass die Pflege seit Jahren am Limit ist. Die aktuelle Ausnahmesituation trifft die Beschäftigten in den Krankenhäusern hart. Viele haben öffentlich und noch viel mehr haben still erklärt, dass sie bereit sind, während der Pandemie noch mehr zu leisten, in anderen Bereichen und mehr zu arbeiten, als im Arbeitsvertrag steht. 
Das abendliche Klatschen auf den Balkonen kann da schnell als Hohn aufgefasst werden. Was wäre, wenn alle Pflegekräfte ihre Arbeit niederlegen würden und streiken? Wir wollen es uns nicht ausmalen. #systemrelevant 
Wir schließen uns den Forderungen an: Im Fokus stehen müssen Menschen – die Patient*innen und die Beschäftigten – statt Profite! Es braucht mehr und deutlich besser bezahlte Pflegekräfte, die gute fachliche Arbeit leisten können – und das auch nach der Corona-Krise!
 
 
Die Krise trifft nicht alle gleich
Der Vorstand der Lunfthansa erklärt, er verzichte angesichts der Krisensituation freiwillig auf 20% seines Gehaltes für das Jahr 2020. Für den Vorstandsvorsitzenden heißt das 3,14 Millionen Euro Jahresgehalt statt 3,92 Millionen. Das ist ein Monatsgehalt von 261.667 Euro. Währenddessen beantragen die Arbeitgeber*innen branchenübergreifend Kurzarbeit, was für die Arbeiter*innen bedeutet nur noch 60% des Nettolohns zu bekommen. Für einige heißt das, es wird schwer, über die Runden zu kommen.
Auch Angestellte in den sogenannten „systemrelevanten Berufen“, die in diesen Tagen so viel für ihren Einsatz gelobt werden, können teilweise nicht von ihrem Einkommen leben. 200.000 Vollzeitbeschäftigte in der Pflege oder im Einzelhandel mussten 2018 zusätzlich Sozialleistungen in Anspruch nehmen, was in unserer Gesellschaft geächtet wird.
 
Zudem sind Staatsbeteiligungen bei einigen der größten Unternehmen Deutschlands in der Diskussion, die die Krise besonders hart trifft. Wer diese Hilfen vom Staat – und damit also aus Steuergeldern – in Anspruch nimmt, soll garantieren, dass sie ihren Managern keine sogenannten Boni (Extrazahlungen die am Gewinn orientiert sind). Und die Vorstandsgehälter sollen auf 500.000 Euro beschränkt werden. Es müsse sichergestellt sein, dass solche staatlichen Beteiligungen nicht für hohe Vorstandsbezüge missbraucht werden. Das könne die Regierung den Bürger*innen nur schlecht erklären. Hier würde die Erklärungsnot dann also anfangen? Wegen der krassen Entlohnungsunterschiede – durchschnittlich verdient der Vorstand der größten deutschen Unternehmen 71 Mal so viel wie seine Mitarbeiter*innen (Stand 2019) – könnte es sich lohnen, schon früher mit einer kritischen Betrachtung zu beginnen. Wer profitiert von unserem Wirtschaftssystem und wer verliert? Ist ein Jahresgehalt von 500.000 Euro gerechtfertigt für die Chefetage eines Unternehmens, deren Geschäft so gut wie lahm liegt und das ohne staatliche Hilfe insolvent wäre?
Angesichts dieser Verhältnisse werden durch die Coronakrise die sozialen Missstände in unserer Gesellschaft einmal mehr deutlich sichtbar. 
Gegen klassistisches Lohndenken!
 
corona & klassismus: bildung
 
In der Coronakrise lernen Schüler*innen zu Hause, weil die Schulen geschlossen sind. Die Lehrkräfte schicken Unterrichtsaufgaben per Mail an die Eltern. Der Haken daran: Die Voraussetzungen für Kinder und Jugendliche sind sehr unterschiedlich. Manche lernen mit ihren Eltern zusammen und bekommen Hilfe von ihnen oder sogar Privatunterricht. Andere sind völlig auf sich alleine gestellt. Sind gute technische Geräte vorhanden, auf denen ich die Aufgaben machen kann? Oder ein Drucker? Muss ich mir den Familien-Laptop mit all meinen Geschwistern teilen? Es macht einen Unterschied, ob ich ein eigenes Zimmer habe, in das ich mich zurückziehen und lernen kann. Eine kleine Wohnung und keine eigenen Zimmer für alle Familienmitglieder bedeuten Stress. Unter Stress lässt es sich nicht gut lernen.
Auch für Eltern kann das Homeschooling Stress bedeuten. Habe ich einen Beruf, den ich von zu Hause aus ausüben kann? Gibt es ein eigenes Zimmer für das Homeoffice? Bin ich alleinerziehend und damit auch allein verantwortlich, das Homeschooling möglich zu machen? Deutlich sichtbar wird hier soziale Ungleichheit. Schüler*innen, die sozial benachteiligt sind, werden anders aus der Krise herausgehen als priviligierte Schüler*innen. Sozio-ökonomische Ressourcen sind entscheidend für die Bildung und die Entwicklung von Lebens-Perspektiven der Kinder.
 
Seit den 1980er Jahren ist das BAföG (Staatliche Ausbildungsförderung für Schüler*innen und Student*innen) ein Teildarlehen. Das bedeutet, die Hälfte der finanziellen Unterstützung muss bis zu einem Limit von 10.000 € zurückgezahlt werden. BAföG wird nur in Regelstudienzeit (bspw. im Bachelor 6 Semester, im Master 4) gewährt. In Ausnahmefällen (Behinderung, Kindeserziehung, Pflege von Angehörigen u.a.) kann die Leistung bis zu 2 Semester länger gewährt werden. 2018 beendeten knapp 38 Prozent aller Student*innen im Bachelor ihr Studium in Regelstudienzeit. Wer wegen der überschrittenen Regelstudienzeit den Anspruch auf BAföG verliert, sich aber in der Studienabschlussphase (samt Abschlussarbeit) befindet, hat die Möglichkeit einen fast zinsfreien Bildungskredit bei der staatlichen Förderbank KfW aufzunehmen. So kommen dann noch mal mehrere Tausend Euro zu den bis zu 10.000 € BAföG-Schulden hinzu. Vor allem für Personen aus der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse ist das eine Belastung, umso mehr bei einem mit Hochschulabschluss vergleichsweise niedrigen Einkommen (z.B. Soziale Arbeit). Und auch in der „Corona-Krise“ müssen vor allem Studierende, die sowieso schon finanziell benachteiligt sind, Kredite aufnehmen und draufzahlen, weil nicht jedes Elternhaus einfach mal so einspringen kann. Die Möglichkeit einer Ausbildungsförderung ist an sich eine gute Sache. So können auch finanziell weniger privilegierte Personen ein Vollzeitstudium aufnehmen. Aber: 1. Das Teildarlehen gehört abgeschafft! 2. BAföG sollte grundsätzlich zwei Semester über Regelstudienzeit gewährt werden, weil die Koppelung an die Regelstudienzeit an der Studien- und
Lebensrealität vieler Student*innen vorbeigeht. 3. Als weitere Ausnahmen für die BAföG-Verlängerung sollten gesetzlich anerkannt werden: a) das Arbeiten neben dem Studium und b) die Anstrengungen, die mit dem Bearbeiten der kulturellen Unterschiede zwischen dem nicht-akademischen Herkunftsmilieu und der Uni einhergehen können.


Knapp 70% aller Studierenden arbeiten neben ihrem Vollzeitstudium. Studierende aus der Armuts- und Arbeiter*innenklasse arbeiten zeitlich betrachtet mehr und sie arbeiten häufiger aus einer existenziellen Notwendigkeit heraus als Studierende aus der Akademiker*innenklasse. Ein Alltag aus Studium und Arbeit führt zum Beispiel dazu, dass Veranstaltungen verpasst werden, Inhalte weniger umfangreich vor- und nachbereitet werden können, das Studium verlängert werden muss und das Studium eher als Belastung wahrgenommen wird.
 
Diese Sammlung an Beispielen könnte noch vergrößert werden. Wir möchten auch auf andere Krisen hinweisen, bei denen Klassismus nicht im Fokus steht, die jedoch unsere Aufmerksamkeit und Solidarität brauchen. Europa nimmt die Corona-Krise zum Anlass, die Grenzen noch dichter zu machen und sich noch mehr abzuschotten. Menschen, die sich über das Mittelmeer nach Europa wagen, wird von europäischen Küstenwachen nicht nur jede Rettung verwehrt, sondern sie werden in ihren Booten angegriffen und dem sicheren Tod überlassen. Menschen, die das Alarm Phone angerufen haben, berichten von klaren Worten der Küstenwache: “Ich werde euch im Wasser sterben lassen. Niemand wird hier ankommen.” Wer nicht auf See stirbt, wird zurück nach Libyen gebracht, wo die Geflüchteten Krieg, Folter und Vergewaltigung erwartet.
Auf den griechischen Inseln bereiten sich Geflüchtete in den Lagern auf eine Katastrophe vor. Das ist Rassismus. 
Eine Stimme aus dem Lager Moria auf Lesbos, einer griechischen Insel nahe des türkischen Festlands: 
“Wir warten hier darauf, wie wir sterben werden. (…) Wenn andere jetzt zu Hause bleiben: Wir können das nicht. Ich lebe in einem Zelt, neben Tausenden Menschen auf engstem Raum. Wenn sich eine Krankheit ausbreitet, sind wir verloren. Es gibt hier im Lager keine Ärzte mehr. Krankenwagen kommen nicht mehr ins Camp. Das Krankenhaus von Mitilini ist zehn Kilometer entfernt. Wenn wir zum Arzt wollen, sollen wir ein Taxi nehmen, heißt es, aber wo sollen wir nachts um zwölf ein Taxi herkriegen? Wenn das Coronavirus Moria erreicht, wird das Lager zu einem Friedhof werden. Moria ist kein sicherer Ort, es gibt auch keinen sicheren Ort, an den wir zurück könnten. In unserem Land herrscht Krieg und Gewalt, in der Türkei ist es nicht sicher. Wir haben alles verloren, unsere Familien, unsere Freunde, alles. Aber wir sind Menschen. In Moria leben mehr als 6.000 Kinder. Alte Leute. Wir brauchen einen sicheren Ort, an den wir gehen können. Sonst warten wir hier auf den Tod.”